: Chaos will nicht weichen
Auch zur eigenen Überraschung spaziert Alemannia Aachen mit dem 1:0 gegen Nürnberg an der Spitze der 2. Bundesliga davon, muss jedoch böse Konsequenzen nach Wurfattacken fürchten
AUS AACHEN BERND MÜLLENDER
Diese 2. Bundesliga ist schon komisch. Am Sonntag war Alemannia Aachen vom zweiten auf den ersten Tabellenplatz hochgerutscht, weil der bisherige Tabellenführer Energie Cottbus in Fürth verloren und dadurch plötzlich das schlechtere Torverhältnis hatte. In der 2. Liga der Saison 2003/04 kann man also durch Nichtstun besonders erfolgreich sein. Ohnehin neigen die Teams dazu, sich ständig kreuz und quer gegenseitig zu schlagen. Nichtkonstanz als Konstante: kaum ein Merkmal von Klasse.
Am Montagabend empfing der Tabellenführer dann den 1. FC Nürnberg. Die Aachener gewannen ein intensives, beidseitig offensives Spiel glücklich mit 1:0 und liegen jetzt mit drei Punkten vorn. Dennoch war, so Aachens Trainer Jörg Berger, nach dem siebten Sieg im achten Spiel, „der tolle Fußballabend kaputt gemacht“.
Das lag an den „Bekloppten, Verrückten und Idioten“, wie Berger jene Aachener Vereinsfreunde nannte, die überaktiv geworden waren. Als Erik Meijer (34), der holländische Haudegen im alemannischen Angriffszentrum, nach einem Oliver-Kahn-würdigen Kung-Fu-Sprung per Ampelkarte vom Platz geflogen war, warfen einige Fans Feuerzeuge und Nägel. Getroffen wurde Clubcoach Wolfgang Wolf am Hinterkopf. Das Spiel wurde für zehn Minuten unterbrochen. Der Trainer erlitt einen Schock, und es wurden ihm nach Nürnberger Angaben in der Kabine Infusionen per Tropf verabreicht.
Den Aachenern droht nun eine Platzsperre. Der DFB-Kontrollausschuss hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, Nürnberg legte gestern Protest gegen die Wertung des Spiels ein. Der cholerische Club-Präsident Michael A. Roth, der selbst schon mal Waffengebrauch zur Streitschlichtung anregte, tönte themensicher: „Wenn so etwas Schule macht, muss man um sein Leben fürchten.“ Stürmer Sasa Ciric erinnerte sich: „So etwas wie heute habe ich bisher nur in Jugoslawien und Mazedonien erlebt.“ Nürnberger Spieler hatten übrigens Feuerzeuge und Bierbecher ins Publikum zurückgeworfen, Reservist Martin Driller durch Gesten zudem provoziert.
Niemand hatte Alemannia vor der Saison auf der Liste. Hinter den Kulissen zieht Manager Jörg Schmadtke die Fäden, der manche Saisonspiele der auffällig spielstarken Mannschaft rund um den eleganten Kapitän Kalla Pflipsen, einfacher Nationalspieler einst, schon „fast beängstigend gelungen“ nannte. Früher, als Torwart von Fortuna Düsseldorf, hatte Schmadtke zupackend zugegriffen, in Aachen beweist er ein goldenes Händchen bei Spielerverpflichtungen: lauter Amateure, die fast ausnahmslos Leistungsträger werden. Schmadtke („In Aachen wird das Wir-Gefühl gelebt“) lockte auch den federfüßigen U-21-Stürmer Emmanuel Krontiris auf Leihbasis von Borussia Dortmund nach Aachen. Am Montag war der Halbdeutsche verletzt, für ihn spielte Daniel Gomez, aus Belgiens zweiter Liga gekommen. Und machte das Siegtor (66.).
Schmadtke sagt: „Alemannia ist inzwischen eine solide Adresse, bei der ein Wort gilt. Das ist in der Szene nicht unbedingt üblich.“ Nur das Chaotenimage will nicht weichen. Die Aachener ermitteln nun bei sich selbst wegen der passiven Security. Der Manager, sonst der Unaufgeregtesten einer, tobte in den Tumultminuten brüllend über den Platz, weil die Sicherheitsleute sich lieber selbst in Sicherheit brachten.
Schlagzeilen aus Altlastenzeiten bleiben sowieso. Seit Monaten durchleuchtet Aachens Staatsanwaltschaft die Hintergründe einer 100.000-Mark-Spende der Firma Babcock an den Club in Zusammenhang mit dem Müllverbrennungsskandal. Und es läuft derzeit der „Geldkoffer-Prozess“, rund um die maximal viertelseidene Ex-Clubführung vor drei Jahren, als Unterlagen manipuliert und Urkunden gefälscht wurden, wo Bargeld verschwand, Scheinablösen in die eigene Tasche wanderten und der Verein fast ruiniert zurückblieb.
„Noch 182 Tage“ hatte ein friedlicher Fan am Montag per Transparent angezählt. Eine Wiederkehr in die Bundesliga nach 1967–70 schüfe Raum für zwei gravierende Besonderheiten: Willi Landgraf (35), der halbhohe Publikumsliebling, der am Montag Nürnbergs Toresammler Jacek Krzynowek spektakulär souverän abmeldete, würde den ewigen Einsatzrekord für Zweitligaspiele um wenige Partien verpassen. Für Jörg Berger (59) könnte der Aufstieg zur großen persönlichen Nummer werden. Falls er später erfolglos entlassen wird, wäre er mit sieben Erstliga-Rausschmissen alleiniger deutscher Rekordhalter. Derzeit teilt er sich die Poleposition des häufigsten Extrainers noch mit Gyula Lorant.
Bis dahin wollen sie in der Ulla-Schmidt-Stadt noch oft frohe Kunde vom neuen Torsponsor hören. Zu Alemannia-Toren erklärt der Stadionsprecher am Tivoli: „Plötzlich liegt der Gegner hinten, alles nur durch Nobis Printen.“